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Gauweiler widerspricht

Vor der Abstimmung der Briten zu einem möglichen Brexit sprechen sich maßgebliche Politiker für den Verbleib Großbritanniens aus und preisen die Vorzüge eines solchen Zusammenschlusses an. Es gibt aber auch eine Reihe von Euroskeptikern, welche den bisher eingeschlagenen Weg kritisieren, wie zum Beispiel Herr Peter Gauweiler.

In einem Artikel in der Welt am Sonntag vom 5.6.2016 / Ausgabe 23 / Seite 11 konnte man diese – wie ich meine berechtigte Skepsis –  mit der Überschrift

Da muss ich widersprechen!  

nachlesen.

Peter Gauweiler findet nicht, dass die sieben Gründe, die vor Kurzem in der “Welt am Sonntag” für die EU sprechen sollten, überzeugend sind. Replik eines großen Skeptikers

Am 16. Mai veröffentlichten in der “Welt am Sonntag” mehrere Autoren “Sieben gute Gründe, warum wir die EU brauchen”:

1. Gefahr der Rückkehr zum nationalen Wahn.

2. Bürger hätten viel weniger Geld in der Tasche.

3. Einzelstaaten hätten viel schlechtere Verhandlungspositionen.

4. Ohne den Euro sinke die Reformbereitschaft.

5. Es gäbe mehr Grenzen in den Köpfen und Herzen.

6. Die Einzelstaaten wären zerstritten und allein gelassen

7. Wir hätten holprige Straßen und lahmes Internet.

Die Frage ist, ob wir mit der real existierenden EU diese Zielvorgaben, ohne die es nicht geht, wirklich erreichen können. Folgende Tatsachen sprechen dagegen:

  1. “Die EU verhindert die Gefahr der Rückkehr zum nationalen Wahn”

Es heißt, dass durch das organisierte Europa “der Kompromiss an die Stelle der Kanonenkugel getreten” ist. Das stimmt nicht. Sei dem Lissabon-Vertrag erhebt die EU den Anspruch, auch eine Art militärische Organisation zu sein. Obwohl schon die “europäischen” Aktivitäten in Ex-Jugoslawien zu einem Desaster gerieten, das bis heute anhält. Ähnlich verheerend sind die Resultate des von der EU befürworteten militärischen Eingreifens in Libyen. Durch die militärische Interventionspolitik der EU-Staaten ist der Krieg wieder zum Mittel der Politik und damit extrem wahrscheinlicher geworden. Eine solche militärische Interventionspolitik des organisierten Europa war in den Zeiten von Adenauer bis Kohl noch völlig undenkbar.

  1. “Ohne EU hätten Bürger viel weniger Geld in der Tasche”

Europa hat heute, siebeneinhalb Jahre nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise, fünf Millionen Arbeitslose mehr als zuvor. Wer heute ein Restaurant in Münchenoder Berlin besucht, zahlt in der Regel den gleichen Betrag in Euro wie in den 90er-Jahren in D-Mark, also das Doppelte. Was sich nicht verdoppelt hat, sind die Löhne und Gehälter. Überall in Europa, gerade auch in Deutschland, ist ein wirtschaftliches Ausbluten des klassischen Mittelstands zu beobachten (insbesondere am schwächeren Ende). Grotesk dagegen die Steigerungsarten der Finanzwirtschaft und im Investmentbanking, das sich durch die EU-Deregulierungsmaßnahmen explosionsartig ausgeweitet hat. Dass Aktiengesellschaften ihre Gewinne nicht mehr nach den konservativen Bilanzregeln des deutschen Handelsgesetzbuchs errechnen müssen, sondern nach “EU-Bilanzregeln”, mit Wertzuwachs auch für fiktive Steigerungen, hat die “Boni” ihrer Vorstände teilweise um das Vielfache steigen lassen.

Zudem exportiert Deutschland heute insgesamt weniger Waren in die EU als früher in die EG. Die “günstigen Standortbedingungen in Osteuropa” sind ein Euphemismus für die Verarmung zum Beispiel von Bulgarien und Rumänien, die trotz ihrer Befreiung vom Kommunismus im Jahr 1989 bis heute in der Traufe geblieben sind. Im Gegensatz dazu boomen heute auf der anderen Seite des Erdballs Länder wie Vietnam und Kambodscha, die ihre Wirtschaft wirklich modernisiert haben.

Das schrankenlose Angebot von Dienstleistungen aus anderen Mitgliedstaaten hat zum Ziel, billige Arbeitskräfte als Leiharbeiter anzubieten, die in Deutschland außerhalb des üblichen arbeitsrechtlichen Schutzes stehen. Man kann das als neoliberales Projekt bezeichnen, im schlechten Sinn des Wortes.

  1. “Einzelstaaten hätten viel schlechtere Verhandlungspositionen”, als die EU sie hat

Dass ein Staatswesen sich immer mehr ausdehnen muss, um seine Position in der Welt zu verbessern, ist imperiales 19.-Jahrhundert-Denken. Heute sind die erfolgreichsten Staaten die kleinen Staaten: in Europa Norwegen, die Schweiz, die EU-Mitglieder Holland und Dänemark. In Asien Singapur und Taiwan. Es kommt nicht auf die Größe an, sondern darauf, was man mit dem Land macht.

  1. “Ohne den Euro sänke die Reformbereitschaft”

Noch mal Quatsch – mit dem Euro steigt die Frustration. Mittlerweile kritisieren selbst Regierungsmitglieder, für eine historische Sekunde im letzten Jahr sogar Finanzminister Schäuble, dass durch den Einsatz von falschen Anreizen bei der Euro-Rettungspolitik eigentlich alle verlieren: die Südländer durch hohe Arbeitslosigkeit und die Nettozahler durch Haftung für fremde Schulden. US-Ökonom Martin Feldstein hat schon 1992 darauf hingewiesen, dass man “früher oder später ein Problem bekommt”, wenn man versucht, sehr unterschiedlichen Ländern einen einheitlichen Leitzzins und eine einheitliche Geldpolitik zu verordnen und diese Länder faktisch weiter Schulden machen und Leistungsbilanzdefizite erwirtschaften können. Das war nicht nur Griechenlands Unglück. Es wäre für uns alle besser gewesen, es hätte diesen Euro nie gegeben.

  1. “Es gäbe mehr Grenzen in den Köpfen und Herzen”

Ein visumfreies Wochenende in den europäischen Hauptstädten war vor Schengen genauso möglich wie heute – nur mit dem Unterschied, dass damals der Grenzschutz funktionierte und nicht dem Präsidenten Erdogan überlassen werden musste. Und noch etwas: Die Aussage “Jemand kennt seine Grenzen nicht” ist aus gutem Grund kein Kompliment, sondern ein zeitloser Tadel.

  1. “Die Einzelstaaten wären zerstritten und alleingelassen”

Alleingelassen werden die Bevölkerungen des Erdteils durch Politiken, die zur Problemlösung unfähig sind. Mit der zusätzlichen Polit-Ebene der EU wird das Hin- und Herschieben von Verantwortung, wozu die Politik aller Ebenen ohnehin neigt, nochmals leichter gemacht. Und was die Einheit unseres Kontinents angeht: Das amtliche EU-Brüssel leistet erbittert Widerstand gegen ein Europa in seinen geografischen Grenzen, also vom Atlantik bis zum Ural. Das wurde 2014 durch die ultimative Forderung an die Ukraine unübersehbar, die wirtschaftlichen Beziehungen zum europäischen Russland selbst da einzufrieren, wo dadurch gewachsene Sprach- und Kulturräume getrennt werden. Das Ziel dieser Entweder-oder Politik der EU war, Russland um jeden Preis aus Europa herauszudrängen. Diese neue Spaltung des Kontinents durch die EU haben ausgerechnet drei Vorgänger der heutigen Bundeskanzlerin – Schröder, Kohl, Schmidt – in öffentlichen Erklärungen kritisiert.

Im Euro-System verstehen sich die Mitgliedstaaten auch nicht besser, sondern müssen zusehen, wie sich eigentlich vermeidbare Konflikte verschärfen, ohne selbst eingreifen zu können: Hatten es die individuellen Währungen in Europa von der Deutschen Mark bis zur griechischen Drachme den einzelnen Staaten noch ermöglicht, durch Auf- oder Abwertung auf unterschiedliche ökonomische Notwendigkeiten zu reagieren, ist dies in der Zwangsjacke des Euro-Einheitsgeldes unmöglich geworden.

  1. “Wir hätten holprige Straßen und lahmes Internet” ohne die EU

Beim Internet kommt die EU nach Meinung von Fachleuten weder ihrer Koordinierungsaufgabe noch dem Datenschutz im Verhältnis zu den USA in ausreichendem Umfang nach. Die angeblich von der EU neu gebauten “110.000 Kilometer Straßen” wurden und werden nicht von der EU, sondern im Wesentlichen durch Mautgebühren auch von ausländischen Benutzern dieser Straßen bezahlt. Nur nicht in Deutschland, weil dies die EU verboten hat. Obwohl sich bei uns die meisten Fernstraßen des Kontinents kreuzen. Tatsächlich ist die EU lediglich eine weitere Verteilstelle von Steuergeldern, wie Kommunen, Kreise, Bezirke, Länder und der Bund. Höchstwahrscheinlich wären, was die wechselseitige Unterstützung der Mitgliedstaaten beim Fernstraßenbau angeht, bilaterale Hilfen wirkungsvoller als der Umweg über die Brüssler-EU-Kasse: weil in kürzeren Verwaltungs- und Vergabe-Kanälen weniger Geld kleben bleibt als in langen.

Es gäbe noch einen achten Grund für den europäischen Bund – die Freiheit der Bürger und ihre Wahrung. Davon ist bei den EU-Apologeten gar nichts mehr zu lesen. Das ist verständlich: “Die Freiheit der Bürger gilt seit Langem als zugedeckt durch bürokratische Brüsseler Regelungswut”, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Diese EU-Kritik ist kein deutsches Phänomen, und mit einem Austritt liebäugeln nicht nur die Briten. Inzwischen fordern, so das britische Meinungsforschungsinstitut Ipsos Mori, 58 Prozent der Italiener, 55 Prozent der Franzosen und sogar 43 Prozent der Schweden ebenfalls eine Volksabstimmung über die Zukunft ihres Landes in der EU. Es wird höchste Zeit, dass wir uns die Motive, die angeblich immer noch für die EU in ihrer heutigen Form sprechen, genauer anschauen.

 

Der Autor ist Rechtsanwalt, Publizist und ehemaliger Politiker der CSU. Am 31. März 2015 trat Gauweiler von seinem Amt als stellvertretender CSU-Vorsitzender zurück. Auch sein Mandat als Bundestagsabgeordneter legte er wegen innerparteilicher Differenzen in der Euro-Rettungspolitik nieder

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