Bemerkenswerter Kommentar von Walter Ruegg, veröffentlicht in der “Neuen Züricher Zeitung”
Strategien gegen den Klimawandel müssen alle Faktoren mit einbeziehen. Das gilt auch für die Photovoltaik, die bis dato im Zentrum der Bemühungen steht. Ihr globaler Ausbau bedarf gigantischer Mengen an Rohmaterialien.
Übergroße Kipper transportieren im Tagebau der Kupfermine Erdenet in der Mongolei das Metall ab ©Adrian Bradshaw/dpa
Ein Kommentar von Walter Ruegg.
In den letzten 20 Jahren wurde der Bau von Wind- und Solaranlagen mit Subventionen von über tausend Milliarden Dollar gefördert. Trotzdem ist deren Beitrag am gesamten primären Weltenergieverbrauch immer noch vernachlässigbar klein, er liegt bei etwa zwei Prozent.
Energiewenden gingen auch schon schneller über die Bühne. Im New York des Jahres 1900 benötigte man für den Transport von Personen und Gütern die Leistung von über 100.000 Pferden. 15 Jahre später gab es praktisch keine mehr. Dafür 250.000 Motorfahrzeuge – ohne Subventionen. Naturgesetze machten es möglich: Ein Verbrennungsmotor besitzt eine über hundertmal höhere Leistungsdichte als ein Pferd und er funktioniert 24 Stunden im Tag. Die Kostenvorteile waren durchschlagend.
Bei der Photovoltaik zeigen sich die Naturgesetze auf den ersten Blick auch sehr wohlwollend: Der Strom wird ohne bewegliche Teile, lautlos, sauber und mit erneuerbarer Primärenergie erzeugt. Faszinierend. Doch die Natur hat der Photovoltaik auch zwei Steine in den Weg gelegt: eine kleine Leistungsdichte und eine erratische Stromproduktion. Um gleich viel Strom zu erzeugen wie ein Kernkraftwerk, müssen wir die Sonnenenergie auf einer Fläche von 50 bis 100 Millionen Quadratmetern einfangen. Die Folge: ein Rohstoffbedarf, der je nach Material bis hundertmal höher liegt. Um das Problem des «Flatterstroms» zu umgehen, müssen bei ungenügender Stromproduktion Ersatzsysteme mit zusätzlichen Kosten, zusätzlichem Rohstoffbedarf und zusätzlichen CO2-Emissionen einspringen.
Folgender Vergleich illustriert dies: Ein typisches 1,7 Quadratmeter großes Solarmodul wiegt 20 Kilogramm und leistet bei uns im Jahresmittel knapp 40 Watt. Ohne ein Ausgleichssystem – ein Netz oder eine große Batterie – ist ein sinnvoller Betrieb nicht möglich. Denn das Modul produziert entweder zu viel, zu wenig oder gar keinen Strom. Ein 2000-Watt-Benzinaggregat wiegt auch etwa 20 Kilogramm. Sein Baumaterialbedarf ist aber 50-mal kleiner für die gleiche Stromerzeugung. Vor allem aber erzeugt das Aggregat die genau richtige Menge Strom mit der richtigen Spannung zur richtigen Zeit. Die Kehrseite: ein Treibstoffverbrauch von 100 Litern pro Jahr bei 40 Watt Durchschnittsleistung – und, schlimmer, 240 Kilogramm CO2. Nuklear müsste man für diese Jahresleistung nur winzige 40 Milligramm Uran-235 «verbrennen» – CO2-frei. Auch faszinierend.
Zurück zum Rohstoffverbrauch. Ein kritisches Element ist Kupfer. Der Kupferbergbau erzeugt die größten Mengen toxischer Abfälle auf diesem Planeten. Derzeit werden die weltweiten abbauwürdigen Kupfervorräte auf 870 Millionen Tonnen geschätzt. Der jährliche Kupferbedarf beträgt 28 Millionen, Recycling deckt heute etwa 30 Prozent davon ab. Um gleich viel Strom wie ein 1-Gigawatt-Kraftwerk zu produzieren, benötigt man in unseren Breiten eine Million Dachanlagen zu 50 Quadratmeter, eine Million Wechselrichter und viele Millionen Meter Stromkabel. Dies alles braucht Kupfer, sehr viel Kupfer – etwa fünfzigmal mehr als bei einem Wasser- oder Kernkraftwerk.
Vorteil der Radioaktivität
Auf ein einzelnes Solarmodul entfallen gut 1 Kilogramm Kupfer und etwa 200 Kilogramm Bergbauschlämme. Diese Schlämme, Tailings genannt, bestehen aus fein vermahltem Erz, aufgelöst in starken Säuren, Basen oder anderen Lösungsmitteln. Diese Brühe enthält viel Arsen, Cadmium, Quecksilber, Blei und andere Schwermetalle. Gemäß einer Untersuchung im Auftrag des Bundesamtes für Umweltschutz findet man in 700 Gramm Buntmetall-Tailings im Durchschnitt eine tödliche Dosis Arsen, teilweise bereits in 7 Gramm. Weltweit verursacht die Photovoltaik rund 100 Millionen Tonnen Kupfer-Tailings – pro Jahr. Da sie nicht radioaktiv sind, das heißt nicht zerfallen, bleiben sie bis ans Ende der Zeiten unverändert toxisch.
Für die sichere Endlagerung von Milliarden Tonnen dieser Schlämme ist keine auch nur halbwegs sinnvolle Lösung in Sicht. Verglichen damit ist die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle geradezu einfach. Die Mengen sind vergleichsweise winzig, weltweit etwa 1000 Kubikmeter netto, pro Jahr. Auf jeden Fall schneidet die Photovoltaik heute in den Ökobilanzen schlechter ab als die Kernkraft. Noch größere Unterschiede bestehen bei der Lagerung der Abfälle: Die radioaktiven Substanzen befinden sich in wasserunlöslicher Keramik oder Glas, verpackt in dickwandige Stahlbehälter, streng überwacht. Später bringen wir sie viele hundert Meter unter die Erde – im eigenen Land. Oder – besser – wir benutzen sie als Brennstoff in dafür geeigneten Reaktoren und vernichten sie dabei weitgehend. Die Bergbauschlämme hingegen werden selbst in Industrieländern meist in riesigen offenen Staubecken gelagert, teilweise auch direkt in Flüsse «entsorgt» – mehrheitlich in fernen Ländern. Kaum zu glauben: Etwa 1 Million Quadratkilometer wird heute von den Bergbauabfällen belegt, eine Fläche, die 24-mal so groß ist wie die Schweiz.
Fossile werden ausgebaut
Die Verbrennung von über 15 Milliarden Tonnen fossiler Stoffe pro Jahr stellt eine mindestens ebenso schlimme und andauernde Belastung dar. In den nächsten Jahrzehnten müssen wir uns davon trennen. Eine Herkulesaufgabe: 80 Prozent des Weltenergieverbrauchs beruht heute auf fossilen Rohstoffen (Kohle, Gas und Öl).
Wollen wir sie durch Strom aus Photovoltaik und Windkraft ersetzen, müssen wir deren Beitrag am Weltenergieverbrauch dramatisch erhöhen, von heute 2 auf über 60 Prozent. Dies ist in den nächsten 20 bis 30 Jahren völlig illusorisch. Kosten und Rohmaterialbedarf (Kupfer, Aluminium, Stahl, Nickel, Lithium und andere Stoffe) wären enorm. Denn zusätzlich muss man auch alle fossilen Maschinen und Anlagen durch elektrische ersetzen. Vor allem aber benötigt man eine Unmenge Ersatzsysteme, um die vielen Produktionslücken zu stopfen.
Entsprechend sollten wir Solar- und Windanlagen nicht bei uns, sondern vorwiegend dort bauen, wo es Sonne und Wind in Hülle und Fülle gibt. Photovoltaik-Großanlagen im Wüstengürtel benötigen (bei gleicher Stromerzeugung) kaum ein Drittel der Rohstoffe und kosten nur einen Bruchteil. Trotzdem: Die Naturgesetze verhindern, dass die Stromerzeugung mittels Photovoltaik und Wind je so zuverlässig und ressourcenschonend sein wird wie die Kern- oder Wasserkraft.
Da die Wasserkraft nicht unbeschränkt ausbaufähig ist, wird langfristig die Kernkraft dominieren. Doch diese erwacht erst langsam aus dem politisch verordneten Dornröschenschlaf der letzten vierzig Jahre. Sie benötigt zwanzig bis 30 Jahre, um im wirklich großen Maßstab zur Verfügung zu stehen. Heute sind über 400 Kernkraftwerke in Betrieb, 55 im Bau und weitere 100 in Planung.
Um die Welt zu dekarbonisieren, müsste man den Bestand um einen ähnlich großen Faktor vervielfachen wie die Solar- und Windanlagen. Sehr schwierig, auch wenn die Voraussetzungen (Kosten und Rohstoffbedarf) besser sind. Verglichen mit modernen Kernkraftwerken (wie etwa AP1000, VVER-1200, APR1400, HPR1000) kosten Solaranlagen in der Schweiz mindestens zwei- bis viermal mehr, und das noch ohne Ersatzsysteme oder Speicher.
Da wir weder die erneuerbaren Energien noch die Kernkraft rasch ausbauen können, müssen wir uns damit abfinden, dass in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren die fossilen Brenn- und Treibstoffe dominieren werden. Allen bisherigen 27 Klimakonferenzen und allen Energiewenden zum Trotz.
Gas- und Kohleverbrauch erreichten 2022 Rekordwerte. Ein Rückgang ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Denn 476 Gigawatt Kohlekraftwerke und 859 Gigawatt Gaskraftwerke sind im Bau oder in Planung (gemäß Global Energy Monitor, Stand Juli 2022), die meisten in Asien und Afrika. Dieser Zuwachs ist enorm, er entspricht fast der Hälfte des heutigen weltweiten Strombedarfs. Es bedeutet mehrere Milliarden Tonnen zusätzliche CO2-Emissionen pro Jahr – und viel Feinstaub. Trotzdem ist dieser Ausbau dringend notwendig, es gilt ein bis zwei Milliarden Menschen aus der Armut zu erlösen. Dadurch wird auch das Bevölkerungswachstum gebremst.
Der gewaltige Ausbau der fossilen Energien beruht auf der Zuverlässigkeit solcher Anlagen. Er zeigt auch, dass mit vorwiegend Sonnen- und Windkraft ein Stromnetz nicht zuverlässig und wirtschaftlich betrieben werden kann. Und schon gar nicht in unserem sonnen- und windarmen Land mit einem großen Winterloch. Die Welt wird nicht um einen größeren Ausbau der Kernkraft herumkommen.
Walter Rüegg war an der ETH als Kern- und Teilchenphysiker tätig und arbeitete anschließend in der ABB auf dem Gebiet der Energietechnik.
Artikel aus der “Neuen Zürcher Zeitung” (NZZ)